Tier- und Pflanzenarten haben die Fähigkeit, sich selbst nach Verletzungen wieder zu heilen. Manche können sich nach drastischen Verletzungen selbst heilen. Dazu zählen beispielweise Echsen wie das Amerikanische Chamäleon, (Anolis carolinensis) das seinen Schwanz ablösen kann, um vor Gefahren zu flüchten. Die Wunde verheilt nicht nur, sondern ein nagelneuer Ersatz für den abgetrennten Schwanz entwickelt sich bald danach. Bei manchen Pflanzenarten ist es ähnlich. Der Löwenzahn (Taraxacum sect. Ruderalia) zum Beispiel ist in der Lage, mittels eines milchweißen Safts Wunden zu verschließen und sich damit „selbst zu heilen“. Diese Eigenschaft, nach einer Verletzung selbst in der Lage zu sein, sich wieder zu „reparieren“, ist ein wichtiger Bestandteil der sogenannten „Resilienz.“ In der heutigen Zeit, in der Resilienz eine immer bedeutsamere Rolle spielt, ist diese besondere Eigenschaft deshalb höchst interessant für die Wissenschaft. Wenn man die Funktionsweise dieser Mechanismen erkennen, verstehen und nachahmen könnte, was für Einsätze wären damit auf einer technischen Ebene möglich? Mit dieser Fragestellung haben sich Dr. Olga Speck und Dr. Linnea Hesse von der Fakultät für Biologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sowie Dr. Matthias Boljen und Hartmut Klein vom Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut EMI, im Pilotprojekt „Bio-Inspirierte selbstreparierende Werkstoffe für eine nachhaltige Entwicklung“ des LZN beschäftigt.
Der erste Schritt für das Forschungsteam bestand darin, eine passende Pflanzenart als Modellpflanze auszuwählen. Ziel war es, eine Art auszuwählen, deren Selbstheilungsprinzip sich möglichst gut „technisch“ umsetzten lässt. Deshalb haben sich die Speck, Hesse, Boljen und Klein für die Stauden Mittagsblume (Delosperma cooperi), aus der Familie der Mittagsblumengewächse, entschieden (siehe Abbildung 01). Diese Art weist mehrere Eigenschaften auf, die sie für das Projekt interessant machten. Dazu zählen ihre finger-artigen, nicht flächigen Blätter sowie die Tatsache, dass sie als Vertreterin der Gruppe der Mittagsblumengewächse (Aizoaceae) in trockenen Gebieten wächst. Daher hat sie innere, mit Flüssigkeit gefühlte Zellen. Ihre dadurch gegebene Fähigkeit, in Trockengebieten zu überleben, war der entscheidende Punkt für die Auswahl der Pflanze.
Die Forscher wussten, dass sie den Heilungsmechanismus sowohl experimentell als auch mithilfe von Computersimulationen und -modellen untersuchen wollten. „Wir haben uns überlegt, was man numerisch machen könnte, um das Verhalten der Pflanze am Computer nachbilden zu können. Wir haben also ein Blatt der Pflanze als Modell im Computer abgebildet, uns ein physikalisches Modell überlegt und dann verschiedene Parameter variiert, um zu sehen, was damit passiert“, so Harmut Klein vom Fraunhofer EMI. Er und seine Kollegen waren innerhalb der Förderzeit damit beschäftigt, das Verhalten einer Pflanze bezüglich ihrer Selbstversiegelung zu modellieren und simulieren. Der Heilungsprozess der Mittagsblume besteht aus zwei Teilen: Verschließung oder Selbstversiegelung der Wunde und Ausheilen. Für das Pilotprojekt war dabei nur der erste Teil von Interesse. Die Biologen um Dr. Speck fertigten gleichzeitig Nahaufnahmen der Pflanze, um deren innere Strukturen und ihr Verhalten bei einer Verletzung im Labor untersuchen zu können. Durch die Kombination der parallel erworbenen Ergebnisse konnten die Forscher neue Erkenntnisse gewinnen.
Die erste Frage, die beantwortet werden sollte, war auf welche Weise die Pflanze die Verschließung der Wunde umsetzen kann. Die Forscher der Universität konnten mithilfe von detaillierten Aufnahmen genau sehen, wie sich die Pflanze nach einem Schnitt zusammenzieht, um die Wunde zu verschließen. „Eine weitere Frage die wir uns gestellt haben, war aber auch was die inneren Strukturen und Schichten währenddessen machen“, so Dr. Boljen. „Unsere Kollegen aus der Biologie haben dann einen sauberen Schnitt durch die verschiedenen Bestandteile der Pflanze, also ihre Epidermis, das Chlorenchym, das Parenchym und die Leitbündel gemacht und eine Parameteranalyse durchgeführt.“ Die Nahaufnahmen zeigten detailliert, wie das Gewebe zusammengedrückt und teilweise zerstört wird (Abbildung 02). Zwei wichtige Elemente im Blatt sollten darauf genauer betrachtet werden: Der Wasserverlust, der aufgrund der Verdampfung aus dem Blatt entsteht und zum anderen die Spannung im Blatt, die vom sogenannten Leitbündel ausgeht. Dazu haben Klein und Boljen ein FE-Modell für ein einzelnes Blatt durchschnittlicher Größe erstellt (siehe Abbildung 03). Um auch die inneren Strukturen des Blatts beschreiben zu können, haben sie eine rotationssymmetrische Struktur in der Form eines Zylinders und eines Halbellipsoiden modelliert, die die Eigenschaften der einzelnen Schichten im Pflanzengewebe abbilden kann. Auf diese Weise konnten sie die Epidermis, das Parenchym, das Chlorenchym und die Leitbündel in einem Modell darstellen.
Die Forscher wollten dann verschiedene Umweltfaktoren und pflanzliche Eigenschaften künstlich herstellen, um zu sehen, wie die Fähigkeit zur Selbstheilung der Pflanze bzw. des Modells davon beeinflusst wird. Vier Parameter wurden untersucht: die Luftfeuchtigkeit, der Reflexionskoeffizient, der Elastizitätsmodul (also die Steifigkeit der Zellgewebe) und die Permeabilität. Die Ergebnisse zeigten, dass die Verdunstung von Wasser an der Verletzung und die Luftfeuchtigkeit einen engen Zusammenhang haben. Je niedriger die Luftfeuchtigkeit, desto höher ist die Verdunstung. Der Reflexionskoeffizient oder das Rückhaltevermögen von Membranen für einen gelösten Stoff bestimmt, wie groß das osmotische Potenzial im Blatt ist. Bei der Variation dieser Parameter haben die Forscher entdeckt, dass Veränderungen im Reflexionskoeffizient einen großen Effekt haben. Dieser Effekt bestand darin, dass sich die Wunde deutlich schneller verschließt, je höher der Reflexionskoeffizient ist. Pflanzenteile, beziehungsweise das Gewebe einer Pflanze haben zudem einen spezifischen Elastizitätsmodul. Damit wird die Veränderung des Turgors, des osmotischen Drucks in der Zelle, pro relativer Volumenveränderung der Zelle bezeichnet. Variationen des Elastizitätsmoduls haben jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die Fähigkeit zur Selbstheilung der Pflanze. Ganz im Gegensatz zur Permeabilität der Zellen, also der Durchlässigkeit für Flüssigkeiten. Die Forscher konnten bei der Variation der Permeabilität einen signifikanten Einfluss auf den Selbstversiegelungsprozess der Pflanze erkennen (siehe Abbildung 04). Insgesamt wurde festgestellt, dass die Permeabilität und der Reflexionskoeffizient die größten Einflüsse auf den Selbstversiegelungsprozess der Pflanze ausüben.
Um zu validieren, dass das entwickelte Modell auch tatsächlich die Realität sehr gut wiedergeben kann, führten die Forscher ein Art „Bauteilversuch“ durch. Dabei verfolgten sie bestimmte Punkte in der Simulation und verglichen diese mit dem Verhalten der Probe aus dem Labor. So konnten sie beurteilen, inwiefern Modell und Realität übereinstimmen. Das Ergebnis war positiv und es konnte gezeigt werden, dass das Modell gut funktioniert. „Natürlich gibt es immer Verbesserungspotenzial, aber wir sind mit diesen Ergebnissen sehr zufrieden“ meint Dr. Boljen.
Im Rahmen des Projekts wurde vor allen Dingen die interdisziplinäre Arbeit zwischen den Biologen der Universität und den Ingenieuren des Fraunhofer EMI von den Forschern als spannend und gewinnbringend empfunden. Die inneren Strukturen der Pflanze und deren Verhalten während des Selbstheilungsprozesses konnten detailliert aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven untersucht werden. „Das Projekt bildet insgesamt eine sehr gute Grundlage für weitere Forschung, gerade in der Biologie“ berichtet Klein.
Eine Übertragung der gewonnenen Erkenntnisse auf technische Systeme erwies sich im Rahmen des Projekts dagegen als sehr kompliziert. Der Selbstheilungsmechanismus funktioniert sehr gut bei Delosperma cooperi, da die Pflanze nicht „formstabil“ sein muss. Pflanzen sind flexibel und können weiter arbeiten, auch wenn ihre Form oder Struktur plötzlich ganz anders ist. Technologische Systeme funktionieren dagegen heute noch überwiegend formabhängig. Das heißt, im Gegensatz zu einer Pflanze darf, ein Bauteil sich in der Regel nicht beliebig verbiegen, um einen Riss zu schließen und trotzdem weiter funktionieren. „Insofern kann man schon sagen, dass die Entwicklung eines Materials das flexibel ist und sich selbst heilen kann wie zum Beispiel die Mittagsblume, ein Ziel ist, dessen Erreichung noch ein gutes Stück in der Zukunft liegt“, fasst Dr. Boljen zusammen.